«Erinnerungen sind gesunden Menschen wichtiger als Sterbenden»

Kurz vor dem Tod schweift der Blick nicht mehr in die Ferne. Die Welt wird immer kleiner, es geht nur noch um die Essenz, erzählt Autorin Eva Hardmeier.

Eva Hardmeier

Geschichten, die vom Ende des Lebens, vom Sterben, vom Tod erzählen. Aber auch davon, was vorher ist, wenn der Tod sich ankündet, aber noch nicht da ist. Die Zeit, die hauptsächlich im Bett stattfindet, wo Geschichten erzählt werden, Erinnerungen auftauchen … Eva Hardmeier hat genau diese Momente aufgeschrieben. In ihrem Buch «Bettgeschichten – am Ende des Lebens» berichtet die 60-Jährige von Begegnungen aus Ihrem Berufsalltag als Fachfrau Gesundheit auf der Onkologieabteilung der Klinik Beau-Site in Bern. 

 

Frau Hardmeier, was bleibt, wenn nicht mehr viel Zeit bleibt?

Eva Hardmeier: Gesunde Menschen, die voll im Leben stehen, schauen gerne in die Ferne. Wir wollen die Berge, den See, vielleicht sogar ans andere Ufer sehen. Den Menschen, die ich begleite, ist es egal, ob Sie vom Spitalzimmerfenster aus nur auf das gegenüberliegende Haus schauen. Wenn das Leben endet, schweift der Blick nicht mehr in die Ferne. Stattdessen konzentrieren sich die Menschen auf den eigenen Körper und das, was ihm nah ist.

 

Welcher Austausch findet in diesen Momenten noch statt?

Oft geht es nur darum, am Bettrand zu sitzen, ihre Hand zu halten und gemeinsam einer Amsel zuzuhören. Sterben und geboren werden sind sehr ähnlich. Ein Neugeborenes interessiert sich auch nur für das, was direkt vor ihm liegt, was es spürt, was es schmeckt. Bei Sterbenden ist es genauso.

 

Warum, glauben Sie, ist das so?

Viele der Menschen, die ich begleite, haben etliche Phasen ihrer Krankheit hinter sich, konnten Schritt für Schritt mit dem Leben abschliessen, sich von Menschen, Dingen, Aktivitäten verabschieden. Wohl auch deshalb möchten die meisten von ihnen gar nicht mehr nach Hause. Wenn ich mir vorstelle, dass ich bald sterben könnte, würd ich nochmals nach Hause wollen. Die Kiste mit Liebesbriefen verbrennen. Die dreckigen Unterhosen waschen. Aber das sind Gedanken einer gesunden, lebendigen Person. Vor dem Sterben wird die Welt immer kleiner und kleiner. Es geht nur noch um die Essenz. Man will gut schlafen, vielleicht den Rücken massiert bekommen, einen Blumenstrauss anschauen oder einen einzigen Besuch empfangen. Qualität wird wichtiger als Quantität.

 

Bettgeschichten

Buchtipp: Bettgeschichten – am Ende des Lebens

Zwölf Menschen, zwölf Geschichten, eine Verbindung: die letzten Tage im Leben krebskranker Patientinnen und Patienten. Bettgeschichten ist ein ungeschönter und persönlicher Einblick in die Onkologieabteilung der Klinik Beau-Site in Bern, der sich mit dem Unausweichlichen befasst und ein Stück weit versöhnt.
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Das Leben und der Tod sind in Ihrem Berufsalltag in der in Onkologieabteilung omnipräsent. Wie gehen Sie damit um?

Ich bin mittlerweile 60 Jahre alt, habe nicht mehr die Hälfte meines Lebens vor mir. Im Berufsalltag ständig mit dieser Endlichkeit konfrontiert zu werden, ist eine Herausforderung. Manchmal hab ich schlicht Angst. Etwa dann, wenn es irgendwo im Körper zwickt oder schmerzt. Schwierig ist es auch dann, wenn ich neue Patient:innen kennenlerne, die gleich alt oder sogar jünger sind als ich. Dann muss ich tief durchatmen und an meine Kinder, meine Enkelinnen und an all die Dinge denken, die ich noch machen möchte.

 

Fürchten Sie sich vor dem Ende?

Ja, manchmal hab ich Angst, dass das Leben plötzlich fertig ist. Deshalb verschieb ich nichts. Kürzlich hab ich ein altes Bauernhaus in den Bergen entdeckt und es einfach gekauft. Ich hab mich auf mein Gespür verlassen und nicht ewig herumstudiert. Auf was wollen wir denn warten?

 

Welche Rolle spielen Erinnerungen in dieser Zeit zwischen Leben und Tod?

Ich hab das Gefühl, dass Erinnerungen für gesunde Menschen viel wichtiger sind als für Sterbende. Das merke ich etwa, wenn neue Patient:innen zu uns kommen. Wir bieten ihnen an, ihr Zimmer so einzurichten, wie es ihnen gefällt. Sie dürfen Sachen umstellen, Bilder aufhängen, ihre eigene Bettwäsche mitbringen. Aber die meisten wollen das gar nicht. Es sind meistens die Angehörigen, die ein Familienfoto mitbringen und es hinstellen, weil sie glauben, dass es den Patienten guttut.

 

Wenn es also nicht die grossen Erinnerungen sind, teilen Ihre Patient:innen dann aber manchmal vermeintliche Nichtigkeiten mit Ihnen?

Ja, die Erinnerungen an sinnliche Sachen sind tatsächlich ein Thema. Manche mögen es, wenn ihre Lieblingsmusik leise spielt. Auch gutes Essen schätzen viele. Damit meine ich aber nicht hochstehende Sterneküche. Plötzlich schmeckt das Vanilleglacé, dass eine:n Patient:in an die Kindheit erinnert, tausendmal besser als das teure Hochzeitsessen. Eine Nebenwirkung der Chemotherapie ist, dass fast alle Sterbenden Lust auf Kaltes haben. Wir gefrieren deshalb die absurdesten Lebensmittel. Mayonnaise zum Beispiel. Aber auch Kaffee, Orangensaft, Apfelsaft … Unser Gefrierschrank ist übervoll und so entstehen auch lustig-traurige Momente. Etwa, als wir ganz hinten im Gefrierfach die gefrorenen Bierröhrli vom toten Herr Müller entdeckt haben.

 

An was erinnern sich die Angehörigen, welche Momente sind für sie wichtig?

Wenn Angehörige solche Gespräche führen, bin ich natürlich nicht dabei. Aber bevor mein Vater vor drei Jahren gestorben ist, erzählte er mir und meiner Schwester unglaublich viele Dinge. Allerdings kaum etwas, das wir wirklich wissen wollten. Er war ein linker Gewerkschafter, hatte ein spannendes Leben. Wir wollten so Vieles davon erfahren. Aber ihn hat das nicht mehr interessiert. Er erzählte uns stattdessen, dass er eigentlich ganz etwas anderes studieren wollte, dass er Bratsche hätte lernen sollen. Er erzählte von seinen Eltern und Geschwistern. Über unsere Mutter sprach er hingegen kaum. Das schien für ihn nicht mehr wichtig. Das war für uns schwierig.

 

Welche Rolle spielen Dinge, die wir nicht getan haben? Dinge, die wir bereuen?

Natürlich treffe ich manchmal auf Menschen, die hadern. Meistens geschieht das aber früher. In der Endphase haben sich die meisten mit ihrem Leben versöhnt. Meine Generation hat so viele Möglichkeiten, strebt nach so Grossem, dass wir dabei vergessen, dass die kleinen Dinge manchmal die Kostbarsten sind.

 

Was also macht ein glückliches Leben aus?

Im vergangenen Pandemiejahr haben viele Menschen gelernt, wie wunderbar ein Spaziergang vor der eigenen Haustüre sein kann. Wir haben alle dauernd das Gefühl, dass wir ins Flugzeug steigen und uns irgendwo in der Ferne vom Leben überraschen lassen müssen. Dabei könnten wir einfach an einem regnerischen Mittwochvormittag der Aare entlang laufen und schauen, was passiert. Vielleicht können wir uns etwas von den Sterbenden abschauen, uns ab und an in einen kleinen Raum ohne grosse Fernsicht zurückziehen. Wir streben alle nach tiefer Zufriedenheit. Aber ich befürchte, wir suchen sie oft am falschen Ort. Kennen Sie dieses schöne Gefühl im Bauch, wenn Sie auf einer Gigampfi gigampfen? Wenn man Dinge findet, die ein solches Gefühl im Bauch auslösen, wenn man es schafft, sich in einen solchen Zustand zu versetzen, dann ist man glücklich.

Nicole Krättli

Nicole Krättli ist Multimedia-Journalistin und lebt in London.
www.nicolekraettli.ch

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