Das erfundene Ich

Was wir anderen als unsere Lebensgeschichte erzählen, ist nie die ganze Wahrheit. Sondern eine Kombination dessen, was wir uns im Gedächtnis selbst zusammenreimen. Wie es wirklich war, erinnern wir uns meist selbst nicht mehr so genau. Das dürfte sich aber ändern – dank der Digitalisierung.

Das erfundene Ich

Die Pandemiezeit haben viele genutzt, um mal wieder aufzuräumen: Endlich die staubigen Schachteln im Keller aussortieren, die Kisten auf dem Dachstock ordnen. Eines ist sicher: So ein Ausmisten ist anstrengend. Und braucht Zeit. Denn Ausmisten bedeutet weitaus mehr als einfach nur Ordnung zu schaffen. Ausmisten ist immer auch eine Auseinandersetzung mit sich selbst. Man schaut sich Kinderzeichnungen an, mustert Fotos aus Teenagerjahren oder liest alte Liebesbriefe und seufzt nostalgisch: «Wie jung ich doch war!».

Vielleicht ist Ihnen das auch schon passiert: Beim Durchstöbern alter Dokumente wurden Sie stutzig: «Was, ich war nur zwei Jahre in diesem Verein? Das müssten doch mindesten zehn gewesen sein!». Man bemerkt auf Fotos, dass die Eltern gar keinen so strengen Eindruck machen, wie man das stets in Erinnerung hatte. Oder realisiert beim Lesen des alten Tagebuchs, dass die verflossene Beziehung längst nicht so harmonisch war, wie man sie in Erinnerung hatte.

Die Erinnerung an die eigene Biografie hat so seine Tücken. Immer wieder mal tauchen Indizien auf, die uns vermuten lassen, dass vielleicht doch manches ein bisschen anders war.

 

Aus Erinnerungen wird ein narratives Selbstkonstrukt

Wenn uns andere fragen, wer wir sind, beginnen wir meist mit Eckdaten wie Alter, Beruf, Zivilstand, Kinder und Wohnort. Manchmal formulieren wir unsere Geschichte aber auch persönlicher: Wir erinnern uns an die prägenden Kinderjahren, die grossen Enttäuschungen der Jugendzeit, die wegweisenden Entscheidungen im Erwachsenenalter. Unser Leben fassen wir dabei in einer Art Storyline zusammen: Sie hat Höhen und Tiefen und oft ein paar lustige Pointen.

Die Art, wie wir diese Geschichte gestalten, sagt viel darüber aus, was für eine Identität wir uns selbst zuschreiben, wie wir uns selbst wahrnehmen. Psychologen nennen es die «narrative Selbstkonstruktion». Konstruktion deshalb, weil die Lebensgeschichte nicht nur eine Aneinanderreihung von Tatsachen ist. Sie ist vielmehr eine persönliche Deutung. Den eigenen Lebensweg mit all seinen Zufällen, Abzweigungen und Irrwegen verdichten wir so, dass er irgendwie Sinn ergibt. Manche Aspekte, die wir als wenig wichtig erachten, lassen wir weg. Andere Momente, Begegnungen, Wendungen empfinden wir für unsere Biografie hingegen als sehr bedeutsam.

So gehören dann bestimmte Erinnerungen fix zum biografischen Inventar – zum Beispiel die Scheidung der Eltern. Über andere Dinge berichten wir nur je nach Situation oder abhängig davon, wem wir gerade unsere Lebensgeschichte erzählen: «Eigentlich wollte ich ja Künstler werden, aber … ».  

 

Welche Lebensgeschichte kommt an?

Interessant sind für uns auch die Reaktionen der Zuhörer:innen. Das Staunen. Die Lacher. Irritierte Blicke vielleicht. Beim Erzählen über uns selbst testen wir stets verschiedene Varianten und fühlen uns bei positiver Rückmeldung bestätigt. Je öfter wir die eine Geschichte erzählen und je besser sie beim Gegenüber ankommt, desto mehr wird die Geschichte für uns selbst zur Tatsache. So wars; so und nicht anders, sind wir irgendwann überzeugt.

Doch wenn wir dann im Kellerabteil oder auf dem Dachboden sitzen, sind da plötzlich diese Fotos, Briefe und Karten, die eine andere Geschichte erzählen und dem widersprechen, was wir angenommen und bald selbst für wahr gehalten haben. Misstrauen kommt auf. Vielleicht stimmt ja diese Lebensgeschichte gar nicht, mit der wir stets hausieren gehen?

Solche Momente des Zweifels können ein Auslöser dafür sein, bisherige Lebenslauf-Gewissheiten zu hinterfragen. Psychologen sagen, es sei ein wichtiger und gesunder Prozess, seine Vergangenheit immer wieder aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Was passiert, ist eine Umdeutung der eigenen Identität, die manchmal auch in Krisen ausgelöst wird. Insbesondere dann, wenn man Lebensereignisse wie eine Krankheit, eine Scheidung oder den Tod eines nahestehenden Menschen überwinden musste, bewertet man die Beziehung zu den Eltern, die Schulzeit oder Ehejahre wieder anhand anderer Kriterien. Das biografische Fazit ist also stets nur ein vorläufiges.

 

Suche nach der Wahrheit

Das führt aber zu einem weiteren Problem: Was stimmt denn nun? Wie war es denn wirklich? Waren die Eltern streng oder nicht? Die verflossene Beziehung harmonisch oder konfliktbeladen? Abschliessend beantworten kann man solche Fragen wohl nie. Aber möchte man ihnen etwas tiefer auf den Grund gehen, haben die meisten von uns recht wenig objektives Beweismaterial, das sie zurate ziehen können.

Wer im letzten Jahrtausend zur Welt gekommen ist, findet in seiner Erinnerungskiste vielleicht ein paar Schulhefte, Briefe, Tagebücher, Fotoalben, Schnappschüsse, im besten Fall einige VHS-Kassetten aus alten Tagen. Wie mit einer Leimtube müssen wir aus diesen Fundstücken und unserer lückenhaften Erinnerung dann so etwas Bedeutsames zusammenbasteln, das sich unsere Identität nennt.

 

Digitalisierung sei Dank

Wie viel einfacher werden es die Kinder von heute haben. Sie werden viel bessere Voraussetzungen haben, dereinst ihrer Vergangenheit auf die Spur zu kommen. Dank Digitalisierung werden sie unendlich viel mehr Material an Erinnerungen zur Verfügung haben.

Das Handy begleitet die Kinder heute durch den Tag. Eltern halten so viele Momente fotografisch oder filmisch fest: alltägliche Begebenheiten wie das Frühstück, das Basteln oder Spielen im Garten. Die Kamera ist dabei bei den ersten Schritten, dem ersten Schultag, dem ersten Sturz vom Velo. Wenn aus Kindern Jugendliche werden, nehmen sie ihr Mobiltelefon mit zum ersten Date, an die Schulabschlussfeier und auf die erste grosse Rucksackreise.

Für die Beantwortung biografischer Fragen werden die Kinder von heute also eine ganz andere Ausgangslage haben als die Generationen vor ihnen. Ihre Herausforderung wird es dann wohl sein, auf alten Laufwerken in Tausenden Megabytes von Daten jene Bilder, Videos und E-Mail-Unterhaltungen zu finden, die für sie bedeutsam sind und ihre Identität formen.

Annette Schär

Dr. Annette Schär hat an der Universität Zürich Psychologie studiert und arbeitet als Texterin/Journalistin BR.
www.menschundarbeitswelt.com

Corina Vögele

Corina Vögele ist Illustratorin und gerne mit dem Bleistift draussen unterwegs.
www.corinavoegele.ch

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