Sie spielen unseren Song!

Musik weckt Erinnerungen, Lieder brennen sich ins Gedächtnis ein. Musik ist nicht überlebenswichtig und dennoch ein wesentlicher Bestandteil der meisten Kulturen. Und fast aller Biografien.

Wir hören ein paar Töne, vier, fünf Akkorde, das Intro eines Songs – und schon läuft in unserem Kopf ein Film ab. Musik weckt Erinnerungen. So rasch und so unmittelbar, wie das sonst bloss noch Gerüche fertigbringen. Im Gegensatz zu Gerüchen, die den Menschen vor einem lebensbedrohenden Brand warnen oder ihn magisch zu einer anderen Person hinziehen, ist Musik allerdings weder für unser Überleben noch für unsere Fortpflanzung zentral.

Für Physiker sind Klänge Schwingungen. Wahrnehmen können wir diese Schwingungen, weil sie den Luftdruck verändern. Durch das Ohr werden diese Schwingungen zum Trommelfell geführt, wo sie von rund 3500 Haarzellen in Nervenimpulse umgewandelt werden. Diese Nervenimpulse gelangen zum Hörzentrum, wo die eingehenden Informationen interpretiert werden. Das Hörzentrum der linken Hirnhälfte ist eher für den Rhythmus zuständig, um Klänge und Töne kümmert sich die rechte Seite.

 

Nicht romantisch. Oder doch?

So weit, so unromantisch. «Ich bin überzeugt, dass ein gutes Lied ein ganz persönliches Herz braucht», sagt einer, der es wissen muss: Adrian Stern, der Badener Mundart-Sänger und Songschreiber, dessen Song «Amerika» Gold-Status hat. In dem Lied schlägt er seiner Frau vor, nach Amerika abzuhauen, ein Haus zu bauen, ganz viele Kinder zu haben und zusammen glücklich zu bleiben, «bis mer alt und schrumplig sind».

«Mich macht es überglücklich, wenn andere meinen Song als ‘den Ihren’ bezeichnen», sagt Stern. Er habe sich früher immer selber in den Songs anderer gesucht. Deshalb, sagt der Musiker, sei es die grösste Herausforderung beim Liederschreiben, eine universelle Aussage mit einer ganz persönlichen Note zu kombinieren. Das ist den Autoren des Songs «Live Like You Were Dying» gelungen: Das Lied wurde zu einem riesigen Erfolg für Tim McGraw – und zu «unserem Song» für Adrian Stern und seine Frau. «Als wir vor vielen Jahren durch Amerika reisten, sangen wir immer lauthals mit, wenn dieses Stück am Radio lief. Jedes Mal, wenn wir den Song hören, erinnern wir uns an die schöne Zeit, die wir hatten.»

Erinnerungen und Wörter haften an Tönen

Berichte aus der Arbeit mit Alzheimer-Patienten zeigen, dass Musik für das Gedächtnis eine besondere Rolle spielt: Menschen mit Alzheimer erinnern sich oft an Melodien aus ihrer Kindheit, erkennen oder summen sie. Musikalische Reize werden im Gehirn sehr stark mit Emotionen verknüpft. Das spielt für die Qualität der Erinnerung eine wesentliche Rolle, weil wir uns besser an Erlebnisse oder auch an andere Informationen erinnern können, wenn diese mit Gefühlen verknüpft sind – mit positiven, aber auch mit negativen. Forscher vermuten, dass dies ein wesentlicher Grund dafür ist, weshalb Musik im Alltag von so vielen Kulturen dermassen zentral ist.

Es erklärt auch, weshalb wir uns Songtexte besser merken können: Sie sind mit der Gefühlswelt der Klänge verknüpft. Je stärker der emotionale Eindruck eines Moments, desto nachhaltiger die Erinnerung an den Soundtrack dazu. «Mein Mann und ich haben ‘A Love I Think Will Last’ von Holly Williams an unserer Hochzeit gesungen», sagt Jaël Malli, langjährige Sängerin der Band Lunik und heute Solo-Künstlerin. «Wir hatten diese CD sehr oft während unserer Alaska-Reise im Auto gehört. Auf dieser Reise fragte er mich, ob ich ihn heiraten wolle.»

Für viele Lunik-Fans sei «Through Your Eyes» ein wichtiger Song, der auch immer wieder an Hochzeiten gespielt werde, sagt die Sängerin. «Immer wieder erzählen mir Paare, sie hätten sich bei diesem Song kennen und lieben gelernt. Jemand sagte mir sogar einmal, er hätte dazu sein ‘erstes Mal’ gehabt. Es berührt mich immer wieder, wenn meine Lieder so wichtige Wegbegleiter werden dürfen.»

Lieder bleiben bis zum Schluss

Mauro Guarise ist Songschreiber und Sänger bei der Band «Monotales». «Sein» Lied ist nicht eines, das ihn mit seiner Frau verbindet – «obwohl es das schon auch gibt», sagt er. «If It Takes A Lifetime» ist der Song, der seine Biografie am meisten geprägt hat. «Es sind etwa fünf Jahre vergangen, seit meine Eltern gestorben sind», sagt Guarise. Den Song von Jason Isbell, eine zügige Upbeat-Nummer, hörte er damals jeden Tag zig Mal. «Ich klammerte mich an diese Zeilen: ‘My day will come / if it takes a lifetime’. Ich wusste: Irgendwann sind diese schweren Zeiten Vergangenheit. Es kam mir vor, als legte mir der Song tröstend eine Hand auf die Schulter.» Noch heute hört ihn Mauro Guarise regelmässig. «Mit der Zeit hat sich die Stimmung geändert, in die mich dieser Song versetzt», sagt er: «Inzwischen ist es, als sei meine Mutter für einen kurzen Moment wieder da.»

Dieses positive Werten ist gemäss neuerer Forschung dadurch zu erklären, dass Musik vereinfacht gesagt neuronale Emotions- und Belohnungsmechanismen bedient – Mechanismen, die auch aktiv sind, wenn wir essen, Sex haben oder Drogen konsumieren. Allerdings ist vieles noch unerforscht. So weiss man bis heute nicht, wie viele Musikstücke wir im Laufe unseres Lebens «abspeichern» können. Wie gross wir Menschen quasi als iPod wären, ist also unklar. Bekannt ist hingegen, dass unser Musikgedächtnis aufgrund seiner verzweigten Struktur recht immun ist gegen den Ausfall einzelner Netzknoten – vergleichbar mit dem Internet. Deshalb erinnern wir uns auch dann noch an Lieder, wenn unsere Hirnleistung eines Tages nachlässt. Doch bis dahin bescheren uns «unsere» Songs noch eine ganz Menge schöne Erinnerungen.

Susanne Loacker

Susanne Loacker ist Dozentin, Journalistin und Übersetzerin.

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